Der Supergau von Tschernobyl

Durch die Reaktorexplosion in Tschernobyl wurde in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 einhundert Mal mehr Radioaktivität freigesetzt als bei Abwürfen von Atombomben. Sie zählt bis heute als die bisher grösste industrielle Katastrophe der Menschheit. Ausser der unmittelbaren Umgebung des Reaktors, einem Gebiet mit einem Radius von etwa 30 Kilometern, wurden vor allem in Belarus (Weissrussland), Russland und der Ukraine große Landstriche radioaktiv verseucht.

Geographische Lage

Das Kernkraftwerk Tschernobyl liegt in einem sumpfigen Waldgebiet im weissrussisch-ukrainischen Grenzgebiet am Ufer des Flusses Prypjat, 100 Kilometer nördlich von der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Vier Kilometer vom Reaktorkomplex entfernt liegt die eigens für die Beschäftigten angelegte Stadt Prypjat. Dort lebten zum Zeitpunkt des Unfalls 45‘000 Menschen. Heute ist es eine unbewohnbare Geisterstadt, welche in der kontaminierten Zone 1 liegt. Insgesamt lagen in einem Radius von 30 Kilometern um den Reaktor 76 Siedlungen. 1/2.1

Die Reaktoranlage

Dem Atomkraftwerk von Tschernobyl gehörten 1986 vier aktive Reaktorblöcke an, zwei weitere waren in Bau. Die Blöcke I und II gingen 1977 und 1978 in Betrieb, die Blöcke III und IV in den Jahren 1981 und 1984. Für die Blöcke V und VI waren die Jahre 1986 und 1988 für die Inbetriebnahme vorgesehen.

Die Reaktorblöcke sind vom Typ eines Graphitmoderierten Druckröhren-Siedewasserreaktors (RBMK-1000), mit einer elektrischen Leistung von je 1.000 MW. Das Reaktordesign weist zwei Kühlmittelkreisläufe auf, welche die Wärme von jeweils einer Reaktorhälfte abführen. Kernreaktoren dieses Typs wurden ausschliesslich auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR gebaut und in Betrieb genommen.

Die etwa 1700 Brennstäbe befinden sich jeweils in einer eigenen Druckröhre und nicht, wie in anderen Kernreaktoren üblich, in einem grossen Druckbehälter. Jeder Brennstoffkanal erzeugt Dampf, der in einem Direktkreislauf die Turbinen speist, welche den Generator antreiben und somit Strom erzeugen. Ausserdem waren für die Steuerung der Kettenreaktion noch sehr viele Regelstäbe notwendig. Werden diese komplett eingefahren, stoppen sie die Kettenreaktion, da Neutronen absorbiert werden. Die Kettenreaktion wird von einem massiven Graphitblock moderiert. Das heisst, die bei der Kernspaltung frei werdenden Neutronen werden vom Graphit auf eine Geschwindigkeit abgebremst, die es ihnen ermöglicht, weitere Kerne zu spalten. Die RBMK-Reaktoren sind stark überaktiv ausgelegt, da sie einen positiven “Voidkoeffizienten” haben. Dies Bedeutet, dass die Kettenreaktionen sich beschleunigen, wenn Kühlwasser verloren geht. Westliche Kernkraftwerke müssen einen negativen Voidkoeffizienten aufweisen, was bedeutet, dass die Kettenreaktion automatisch zum Erliegen kommt, wenn Kühlwasser verloren geht.

 

Heute ist die komplette Reaktoranlage stillgelegt. Im Oktober 1991 wurde der Betrieb in Block II nach einem Brand eingestellt. Darauf folgte dann auch das Ausschalten des Block I im November 1996 und des Block III im Dezember 2000. 3

Das Funktionsprinzip des Reaktor IV

Der Reaktorblock IV gehörte zum Bautyp des grafitmoderierten Siedewasserreaktors. Bei diesem Reaktortyp werden die bei jeder Kernspaltung von Uran 235 entstehenden Neutronen durch Grafit abgebremst. Die Neutronen werden dadurch so langsam, dass sie die Kettenreaktion der Kernspaltung in Gang halten können. Die durch die Kernspaltung gewonnene Wärme bringt bei diesem Reaktortyp Wasser zum Sieden. Der dabei entstehende Dampf treibt die Turbine des Kraftwerks an.

 

Westliche Kernenergieexperten kritisieren an diesem Reaktortyp vor allem die fehlende Schutzhülle und die grossen Mengen an brennbarem Grafit im Kernbereich des Reaktors. 2.2/4.1

Der Unfall

Der Unfall ereignete sich in Block IV des Kernkraftwerkes während eines Tests in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986. Die Katastrophe ist im Wesentlichen auf die Systemschwächen und einer Abfolge falscher Entscheidungen und verbotener Eingriffe der Bedienungsmannschaft während des Experimentes zurückzuführen. Am 26. April 1986, um exakt Uhr 1:23:40 kommt es zum so genannten GAU, dem Grössten Anzunehmenden Unfall. Es ist der bisher schwerste Reaktorunfall weltweit.

Ablauf

Die Betriebsmannschaft sollte prüfen, ob die Turbine bei einem Stromausfall – ehe die Notstromaggregate anspringen – noch genügend Restenergie für die Kühlwasserpumpen liefern.

Um den Probelauf des Reaktors nicht zu unterbrechen, wurden die Sicherheitssysteme mit Absicht ausser Funktion gesetzt. Für den Test musste der Reaktor auf 25 Prozent seiner Leistung heruntergefahren werden. Dieser Vorgang verlief nicht nach Plan: Die Leistung des Reaktors sank aus bisher ungeklärten Gründen auf unter 1 Prozent. Der Reaktor musste wieder langsam hochgefahren werden. Doch 30 Sekunden nach Testbeginn wuchs die Leistung plötzlich schlagartig an. Die Notabschaltung (Abbruch der Kettenreaktion) des Reaktors misslang. 2.3

In Sekundenbruchteilen stiegen Leistung und Temperatur um ein Vielfaches. Der Reaktor geriet ausser Kontrolle. Es kam zu einer gewaltigen Explosion. Die 1'000 Tonnen schwere Abdeckplatte des Reaktorgebäudes wurde weggesprengt. Bei Temperaturen über 2'000 Grad Celsius schmolzen die Brennelemente. Dann fing der Grafitmantel des Reaktors Feuer. In einem regelrechten Feuersturm wurden die radioaktiven Spaltprodukte, die aus der Kernschmelze austraten, in die Atmosphäre gesogen. 4.2

Ursache

Zur Erklärung der Unfallursachen konnte man nicht auf Erfahrungen aus vergleichbaren Ereignissen zurückgreifen. Man war auf Augenzeugenberichte, auf nach dem Unfall durchgeführte Messungen sowie nachgestellte Experimente angewiesen. Die Ursachen des Unglücks werden heute als ein verhängnisvolles Zusammentreffen von menschlichem Versagen und unvollkommener Technik beschrieben.

Der Test, bei dem sich das Unglück ereignete, fand unter Zeitdruck statt. Kurz nach dem Start wurde der Testlauf für neun Stunden unterbrochen. Es musste noch Strom in die Hauptstadt Kiew geliefert werden. Nun fand der Test in der Nacht statt. Als entscheidend gelten heute jedoch mehrere Mängel im technischen Design des Reaktortyps.

Dazu gehört vor allem die Handhabung der Steuerstäbe. Bei einem Reaktor wird die Leistung über die so genannten Steuerstäbe gebremst: Je weniger Steuerstäbe zwischen den Brennelementen platziert sind, desto mehr Leistung bringt der Reaktor. Der Umgang mit dieser Art von “Bremsen” hat jedoch bei diesem Reaktortyp einen verhängnisvollen Mangel. Sind die Steuerstäbe ausgefahren und werden sie “zum Bremsen” wieder zwischen die Brennelemente zurückgefahren, führt dies zunächst zum gegenteiligen Effekt. Die Reaktorleistung wird nicht abgebremst. Sie steigt im Gegenteil zunächst wieder an.

Werden, wie es beim Test in Tschernobyl der Fall war, zu viele Steuerstäbe gleichzeitig ausgefahren und dann bei der Notabschaltung gleichzeitig wieder eingefahren, so steigt die Leistung so extrem an, dass der Reaktor zerstört wird. Ein in seinen Folgen weniger gravierender, ähnlicher Fehler war bereits 1983 in einem Reaktor des gleichen Typs in Litauen aufgetreten. Diese Erfahrung war jedoch nicht an die Betriebsmannschaft in Tschernobyl weitergegeben worden. 2.4

Umgang mit der Katastrophe (Technische Massnahmen)

Um den Brand zu löschen und damit auch die Freisetzung radioaktiver Stoffe zu stoppen, pumpten Feuerwehrleute nach dem Unfall Kühlwasser in den Reaktorkern. Nach zehn Stunden wurde dieser Löschversuch erfolglos abgebrochen. Vom 27. April bis zum 5. Mai flogen mehr als 30 Militärhubschrauber über den brennenden Reaktor. Sie warfen unter anderem 2‘400 Tonnen Blei und 1‘800 Tonnen Sand ab. Damit sollte der Brand erstickt und die Strahlung abgeschirmt werden.

Diese Effekte wurden jedoch nicht erreicht. Im Gegenteil: Unter dem abgeworfenen Material staute sich die Wärme. Die Temperatur im Reaktor stieg wieder an, und damit auch die Menge austretender Radioaktivität. In einer letzten Löschphase wurde der Reaktorkern mit Stickstoff gekühlt. Erst ab dem 6. Mai waren der Brand und die radioaktive Emission unter Kontrolle. 2.5/6

Die Helden von Tschernobyl

Die für die Löscharbeiten eingesetzten 600 Männer der Werksfeuerwehr und des Betriebspersonals sind die am höchst verstrahlte Personengruppe. 134 von ihnen erhielten Dosen an Radioaktivität zwischen 0,7 und 13 Sievert (Sv), das heisst sie erhielten innerhalb von Stunden eine Strahlungsmenge ab, die bis zu 13 000 mal über dem Wert von 1 Millisievert liegt.

Zum Vergleich: In der Europäischen Union gilt 1 Millisievert als der Grenzwert für die effektive Dosis, der Einzelpersonen aus der Bevölkerung durch ein Kernkraftwerk in einem Jahr ausgesetzt werden dürfen.

 

31 Helfer starben nach kurzer Zeit. Insgesamt waren an den Aufräumungsarbeiten in Tschernobyl bis 1989 rund 800‘000 Männer beteiligt, die bis heute unter den gesundheitlichen Folgen dieser Einsätze leiden. 300‘000 von ihnen sollen Strahlendosen von mehr als 0,5 Sv erhalten haben. Wie viele von ihnen an den Folgen bisher gestorben sind, ist umstritten. Nach Angaben staatlicher Stellen der drei betroffenen Staaten der früheren Sowjetunion sind bisher rund 25‘000 Liquidatoren gestorben. 5

Erste Hilfsmassnahmen

Erst am 27. April, rund 36 Stunden nach dem Unfall, wurde mit der Evakuierung der Einwohnerinnen und Einwohnern aus der Arbeiterstadt Prypjat begonnen. Die 45‘000 Personen wurden in Bussen aus dem Ort evakuiert, welcher nur vier Kilometer vom Kraftwerk entfernt liegt.

Bis zum 5. Mai mussten alle Menschen in einem Umkreis von 30 Kilometern um den Reaktor ihre Häuser verlassen. Innerhalb von zehn Tagen wurden 130‘000 Menschen aus den 76 Siedlungen in diesem Bereich evakuiert und das Gebiet wurde zur Sperrzone erklärt. Wer sie betreten wollte, brauchte eine spezielle Genehmigung. Damit sollte eine Verschleppung der Radioaktivität verhindert werden. Trotz des offiziellen Wohnverbots sind bis heute mindestens 800, vorwiegend alte Menschen, in ihre ehemaligen Dörfer in der Sperrzone zurückgekehrt.

 

Ab dem 1. Mai 1986 starteten die ersten Kontrollen für Milch und Trinkwasser in den kontaminierten Gebieten. Aus medizinischer Sicht viel zu spät wurde erst am 23. Mai 1986 mit der offiziellen Verteilung von Jodpräparaten begonnen. Diese Arznei sollte die Aufnahme von radioaktivem Jod durch die Schilddrüse vermeiden, doch die Hauptmenge an strahlendem Jod war bereits in den ersten zehn Tagen nach dem Unfall freigesetzt worden. 2.6

Der 1. Sarkophag

Innerhalb von sieben Monaten wurden das zerstörte Reaktorgebäude und dessen geschmolzener Kern durch einen Stahlbetonmantel eingeschlossen. Dieser Sarkophag sollte die Strahlung abschirmen und den restlichen Brennstoff einschliessen. Er galt jedoch nur als Provisorium und ist für eine Lebenszeit von 20 bis 30 Jahren gebaut. Als grösstes Problem gilt seine Stabilität: Er wurde in grosser Eile gebaut, und seine Träger könnten durchrosten. 2.7/7/8

Der neue Sarkophag

Im Jahr 1997 wurde der Shelter Implementation Plan (SIP) von den G7-Staaten, Russland, der EU und der Ukraine mit der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) initiiert. Die neue Schutzhülle soll es ermöglichen, die radioaktiven Stoffe mindestens 100 Jahre sicher einzuschliessen.

Die neue, 20‘000 Tonnen schwere Hülle überdeckt die im Reaktor IV zurückgebliebenen Abfälle. Das 768 Millionen Euro teure Projekt hätte laut offiziellen Stellen bis zum Jahr 2008 endgültig fertig gestellt sein sollen. So war der Plan, doch der konnte nicht umgesetzt werden.

 

Stattdessen wurden erst zwei Jahre später, im September 2010, die Fundamente für den neuen Sarkophag gebaut, welcher durch das Novarka-Konsortium entworfen wurde. Das Abfallbehandlungsgebäude für flüssige radioaktive Abfälle (engl. Liquid Radioactive Waste Treatment Plant, kurz LRTP) ist noch nicht fertiggestellt. Weiterhin werden im gesamten Kernkraftwerk kleinere Wartungsarbeiten und die Installation von weiteren Sicherheitseinrichtungen, wie zum Beispiel speziellen Türen oder Brandschutzanlagen, durchgeführt.

Mit der Installation für einen neuen Lüftungsraum für die zweite Ausbaustufe der Blocks III und IV wurde im November 2011 begonnen. Der alte, mittlerweile stark korrodierte Turm wird in Kürze entfernt, da er nicht unter die neue Schutzhülle passen wird. 9

© Nick Moulds / fotolia.com
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Der Grundstein für den neuen Sarkophag wurde am 26. Jahrestag, am 26. April 2012 gelegt. Die neue Schutzhülle soll rund 1,5 Milliarden Euro kosten und bis 2015 fertiggestellt sein. Aufregung hat der Einsturz eines Teiles des Daches nahe dem Sarkophag gebracht, welches im Februar 2013 auf Grund hoher Schneemassen zusammengebrochen war. Radioaktivität soll nicht ausgedrungen sein und es gäbe auch keine Verletzte. 10

30 Jahre Tschernobyl 1986 - 2016

© alexlmx / fotolia.com
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Auch 30 Jahre nach der grossen Havarie vom 26. April 1986 ist der neue Sarkophag noch nicht fertig gestellt. Seit über vier Jahren wird daran gebaut. Wichtige finanzielle Mittel fehlen um die Fertigstellung zu sichern. Neu rechnet man damit, dass die neue Schutzhülle 2017-2018 über die alte marode Schutzhülle des 1. Sarkophag geschoben werden kann. Die Gelder der Weltgemeinschaft (Weltbank und Europäische Union) sind aber noch nicht gesichert um die Fertigstellung zu sichern.

Doch selbst wenn die neue Schutzhülle steht und hoffentlich ihren Dienst auch versehen kann, ist noch kein Projekt geplant, dass den fachgerechten Abbau des Unglücksreaktors vorsieht. Es ist zur Zeit auch unklar wie es im innersten Bereich des Reaktor-Kerns aussieht.

Die Zone 1 (30 km Zone) bleibt auch bis auf weiteres eine Zone, die nicht bewohnt werden darf und nur mit Sondergenehmigung betreten werden kann.

Ältere Leute im äusseren Zonenbereich sind wieder in ihre kontaminierten Häuser zurückgekehrt (meist versteckt ohne das wissen der Behörden) und leben dort als Selbstversorger ohne Strom und Gasanschluss.

Seit über 10 Jahren werden offizielle Tages-Touren nach Prypjat und Tschernobyl angeboten.

© eight8 / fotolia.com
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